Textprobe aus
Thomas Brandt
Vom richtigen Leben
Durch Yoga und Meditation
zu neuer Bewußtheit:
Philosophische Grundlegung
zu einer neuen Religiosität
Inhalt:
Vorwort 5
Einstimmung: Warum überhaupt noch Religion? 7
Annäherung: Vom richtigen Leben 15
Wo wir stehen:
Von unserer immer neuen Aufgabe,
uns selbst zu zivilisieren 23
Von der Wirklichkeit 39
Von Bewußtsein und Seele 50
Von der Philosophie und vom Denken 57
Von der Zeit 62
Von der Suche nach dem Sinn 63
Von Meistern, Gurus und Propheten 64
Vom Mönchtum 70
Vom Yoga 74
Von der Meditation in der Art des Za Zen:
Wurzeln im Nichts 78
Vom sozialen und politischen Engagement 85
Vom richtigen Leben und rechten Handeln 92
Grundsätze einer offenen Religiosität 100
Literaturverzeichnis 103
Register 107
Einstimmung: Warum überhaupt noch Religion?
Die für uns überschaubare Geschichte der Menschheit
zeigt in allen Kulturkreisen ein Ringen zwischen den Bemühungen
um zivilisierte Verhältnisse und immer neuen
Einbrüchen von Barbarei. Auch die Jahrhunderte seit dem
Beginn der Aufklärung stellen keinen ungebrochenen Fortschritt
zu größerer Humanität dar. Insbesondere das
zwanzigste Jahrhundert brachte von Menschen an Menschen
verübte Greueltaten, die allen früheren an Grausamkeit
zumindest in nichts nachstehen: Die Namen Verdun,
Auschwitz, Dresden, Hiroschima, Vietnam und Bosnien
symbolisieren nur einen kleinen Teil des menschengemachten
Unglücks in jüngerer Zeit. Das Elend der Unterdrückung
von Menschen in diktatorischen Regimes und
Sklaverei steht neben vielen Millionen Menschenleben,
die durch Armut, mangelnde Bildung, vermeidbare
Krankheit, persönliche Rachegefühle, übertriebenen Ehrgeiz
oder Verbrechen mißlangen und immer noch mißlingen.
Dabei ist wohl zu keiner Zeit, auch nicht in unserer, das
Bemühen ungezählter Menschen um die Zivilisation gänzlich
erloschen. Besonders seit der Epoche der Aufklärung
gewinnt die Idee von den zu verwirklichenden Menschenrechten
immer wieder Anhänger, und es gibt heute einige
Staaten, die in diesem Sinne als weitgehend zivilisiert
gelten können. Als Voraussetzung des 'richtigen' Lebens
müssen wir in der Gesellschaft weitgehend verwirklichte
Menschenrechte ansehen; ohne diese kann das einzelne
Leben kaum gelingen.
Die Geschichte, insbesondere die des deutschen Volkes,
lehrt uns, daß kein Fortschritt von Dauer ist, daß kein Grad
schon verwirklichter Humanität Bestand hat, wenn nicht in
jeder nachwachsenden Generation eine hinreichend große
Zahl einzelner Menschen ihr Leben lang für die Menschenrechte
eintritt und sie ständig für sich und die anderen
neu erkämpft. Jederzeit kann sonst die Barbarei alles
Erreichte wieder zunichte machen.
Die überkommenen Religionen haben in allen Kulturkreisen
eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung der sozialen
und rechtlichen Ordnung gespielt. Seit der griechisch-römischen
Antike stieg dabei jedoch die Wirksamkeit von
Philosophie und Jurisprudenz periodenweise an. Zumal
seit der Aufklärung muß das Bemühen um Sittlichkeit sich
nicht mehr in den Dogmen der Religionen rückversichern.
Ob die dogmatisch-autoritären Anstrengungen der Religionen,
die Menschen zum Befolgen von Normen zu bewegen,
ein wesentlicher Beitrag zu ihrer Zivilisierung
waren, läßt sich nicht sagen, da wir nicht wissen, wie der
Stand der Menschheitsentwicklung ohne diese heute wäre.
Vielleicht haben die Religionen das Gegenteil dessen
bewirkt, was sie vorgeblich angestrebt haben. Der heutige
Fundamentalismus, der die Ausrichtung des Handelns der
Menschen an den vorgeblichen Gewißheiten 'heiliger'
Bücher erreichen will, macht jedenfalls eher einen gewalttätigen
und barbarischen Eindruck.
Die existentielle Ungewißheit, vor der die Priester uns
durch den rechten Glauben geschützt wissen wollen, ist für
uns bei weitem nicht so schrecklich, wie sie uns weismachen
wollen; schrecklich ist es wohl nur für die Priester,
wenn sie ihre Macht über uns verlieren und ihr bequemes
Auskommen.
Das Wort 'Religion' wird im allgemeinen mit
'Rückbindung' übersetzt, Rückbindung an den Urgrund
unseres Seins, der zumeist in einem 'Gott' gesehen wird.
Da wir den Urgrund unseres Seins jedoch nicht kennen
können, wir also frei sind, uns Glaubenssysteme zu erdenken,
haben wir Menschen eine große Fülle konkurrierender
Religionen hervorgebracht. Der Akt der Rückbindung
selbst kann jedoch unabhängig von allen gedachten Inhalten
bedeutende Wirkung auf unser Leben haben: Er kann
uns herausnehmen aus den genetisch und zivilisatorisch
bedingten Automatismen unseres Lebensvollzugs, hinein
ins 'Jetzt'. Nur darin liegt der Wert der Teilnahme an einer
katholischen Messe, dem Gebet der Muslime oder einem
hinduistischen Opferritual.
Insoweit haben sich die traditionellen Religionen, zumal in
ihren mystischen Ausprägungen, durchaus Verdienste um
die Zivilisierung der Menschen erworben. Diese Verdienste
werden jedoch aufgewogen durch die repressiven
Machtstrukturen, welche die religiösen Organisationen
aufgebaut haben. In der Beliebigkeit der verschiedenen,
konkurrierenden Dogmen kommt zudem der Illusionscharakter
der Religionen zum Ausdruck; keine der Religionen
gründet sich in der Selbsterkenntnis. Nur im Innehalten im
Akt der Rückbindung selbst läßt sich ein gewisser Wert
der hergebrachten Religionen erkennen.
In den sittlich-ethischen Codizes der überlieferten Religionen
offenbart sich die Einsicht, daß die Vorstellungswelt
des menschlichen Geistes auf unsere alltägliche Lebensgestalt
prägenden Einfluß ausübt. Den Menschengeist autoritär
zu formen ist daher das ausgesprochene oder unausgesprochene
Ziel aller religiösen Ethik. Die Ankündigung
nachtodlicher Belohnungen oder Bestrafungen wird dabei
neben weltlichen Sanktionen allenthalben als Zuchtmittel
eingesetzt. Nur bei den religiösen Mystikern finden wir die
Anregung, in unserem eigenen Innern unser Einssein mit
der ganzen lebendigen Welt zu entdecken. Diese Entdeckung
werde uns verwandeln und lasse in uns Liebe und
Mitgefühl entstehen. Ihre innere Erfahrung ließ sie zumeist
alle Dogmen ihres ursprünglichen Bekenntnisses überwinden.
Viele von ihnen wurden deswegen von den Kirchen -
nicht nur von den christlichen - verfolgt oder getötet.
Dieses Buch will ein auf neue Weise religiöses Buch sein.
Bisher wurde Religion immer auf den Glauben an einen
oder mehrere persönliche Götter, die den Sinn des
menschlichen Lebens kennen, das Schicksal lenken und
sich den Menschen offenbaren, oder an ein festes Konzept
von der Rolle des Menschen in der Welt gegründet - etwa
auf den Glauben an die stetige Wiedergeburt der menschlichen
Seele, die nach hinreichender Läuterung durch Abtragen
des Karmas aus vielen Leben schließlich im Nirwana
Erlösung finden könne. Religion basiert also bisher
allein auf menschlichen Phantasien, die uns kindliche Geborgenheit
in einer erdichteten Transzendenz bescheren
sollen. Die priesterlichen Verwalter dieser 'Transzendenzen'
kassieren den Preis für diese 'Geborgenheit',
indem sie durch den Verweis auf die strengen Ansprüche
des 'Transzendenten' an die Menschen diese abhängig und
unmündig und sich selbst an der Macht zu halten suchen.
Hier wird dagegen versucht, eine Religiosität zu entwickeln,
die nicht von irgendeinem Glauben, sondern allein
von der Tatsache unseres existentiellen Nichtwissens ausgeht.
Der Weg des jüngeren abendländischen Denkens
zum Nihilismus, der über Jacobi, Marx und Nietzsche zum
Existentialismus von Heidegger und Sartre geführt hat und
sich im Materialismus unserer Naturwissenschaften mächtig
auswirkt, soll seine Vollendung in einer Wendung finden,
die zu einer agnostischen, dogmenfreien Religion
führt. Überraschenderweise konvergiert die nihilistische
Philosophie des Abendlandes, die sich endlich unter
Schmerzen von der Gottesidee befreit hat, durchaus mit
den Erkenntnissen der neueren physikalischen Kosmologie
sowie mit im Yoga und im Zen schon längst formulierten
Gedanken.
In diesem Buch wird vorgeschlagen, daß wir uns an unsere
existentielle Unwissenheit zurückbinden. Denn wenn wir
nicht lernen, unseren genetisch begründeten und durch
Glauben und angemaßtes Wissen verstärkten übersteigerten
Egoismus zu zügeln, wenn wir nicht aus unseren individuellen
und kollektiven Träumen erwachen, werden unsere
technischen Spiele mit der Materie wohl zu einem tragischen
Ende führen.
Zum praktischen Vollzug dieser Rückbindung, die zugleich
die Rückkehr unseres Bewußtseins in die Gegenwart
ist, können uns Yoga- und Meditationsübungen verhelfen.
Diese Übungen sollen zu unserer Religion werden,
einer Religion, die nicht von uns verlangt, Absurdes und
Unbeweisbares zu glauben und die uns die unmittelbare
Erfahrung unseres Einsseins mit dem Kosmos vermittelt.
Diese Erfahrung kann die Vorstellungswelt unseres Geistes
dergestalt umprägen, daß wir liebevoll und voller
Mitgefühl zu sein lernen. Die Kraft, die wir durch unsere
individuell vollzogene Rückbindung ins Leere in Gestalt
eines universellen Mitgefühls erlangen können, soll uns
bei der Bewältigung der Probleme unseres täglichen Lebens
auch unter schwierigen Umständen tragen.
Hier wird versucht, eine nihilistische Religion zu begründen,
die sich mit der abendländischen Aufklärung verträgt.
Eine solche Religion tut uns not, da die Vernunft allein
uns keine Orientierung bieten kann. Denn die Vernunft ist
nur ein Werkzeug, das von beliebigen Voraussetzungen
aus zu logischen Ergebnissen führt. Die nihilistische Beliebigkeit
kann nur durch nihilistische Religiosität überwunden
werden, durch eine Religiosität, die unsere existentielle
Unwissenheit zum Zentrum hat - verbunden mit
der aus der Erfahrung unseres Einsseins mit dem Kosmos
motivierten Entscheidung, menschengemachtes Leiden
möglichst verhindern zu wollen.
Spekulationen über 'transzendente' Gegenstände dürfen
nicht länger Grundlage der Religiosität bleiben, da sie nur
zu Intoleranz und Rechthaberei führen, wenn sie über den
Glauben in den Fanatismus münden. Vielleicht wird in
unserem von materialistischer Areligiosität einerseits und
von religiösem Fundamentalismus andererseits geprägten
Zeitalter, in dem unser physisches Überleben bedroht ist,
eine materialistisch-religiöse Kultur entstehen, in welcher
die selbstmörderischen Tendenzen unserer Spezies neutralisiert
werden können.
Wir bedürfen einer individuell gelebten, dogmenfreien
Religion als Korrektiv zu unseren schöpferischen Fähigkeiten
und zu unserem individuellen wie kollektiven
Selbstbehauptungswillen, da unsere technischen Fertigkeiten
unsere Selbstauslöschung nicht nur möglich, sondern
sogar schon wahrscheinlich machen. Ohne aus innerer
Erfahrung gewonnenes Mitgefühl mit allen Wesen, das
zu einer autonomen Selbstbeschränkung unseres Handelns
und unserer Bedürfnisse führt, werden wir dem kollektiven
Suizid kaum noch entgehen.
Aus unserem Geist heraus schaffen wir einen bedeutenden
Teil unserer Lebensbedingungen selbst. Der Formung unseres
Geistes kommt daher immer größere Bedeutung zu,
je mächtiger unsere Technik wird. Angesichts der extremen
Gefährdung unseres Überlebens durch unser eigenes
Tun müssen wir unsere Anstrengungen, uns selbst zu zivilisieren,
so stark machen, wie wir nur irgend können. Denn
Zivilisation bedeutet heute weit mehr, als nur eine verläßliche
Rechtsordnung, welche die Menschenrechte garantiert:
Zivilisation wird künftig nur möglich bleiben, wenn
wir verantwortlich für die Erde als ganze mit ihrer komplexen
Biosphäre handeln.
Durch unseren technischen Fortschritt sind wir längst in
diese Verantwortung hineingewachsen, wir verhalten uns
aber immer noch wie barbarische, unmündige Kinder. Unsere
globale Verantwortung ist relativ neu, wir haben sie
spätestens am 6. August 1945 mit der Zündung der Atombombe
über Hiroschima übernommen. Dieser Verantwortung
können wir nur gerecht werden, wenn wir unser Leben und Handeln
nicht länger in erster Linie nach Dogmen,
Ideologien und Vorstellungen ausrichten, vielmehr
müssen wir einen neuen Weg beschreiten: Nur wenn wir
in neuer Religiosität das Mitgefühl in uns zu kultivieren
lernen und es zu einer starken Formkraft unseres Geistes
werden lassen, finden wir vielleicht den Mut, unser Leben
bescheidener zu führen und unsere Gesellschaften und
Ökonomien so umzubauen, daß vielleicht doch noch spätere
Menschengenerationen auf unserem Planeten leben
können. Dazu müssen möglichst viele von uns sich autonom
verwandeln, aus eigener Kraft und Erfahrung, nicht
äußerer Autorität vertrauend, sondern der inneren Autorität
ihres Mitgefühls.
Die dogmatischen Religionen haben immer wieder gezeigt,
daß sie hauptsächlich an der Erhaltung der Macht
ihrer jeweiligen Priestercliquen über die Masse der Gläubigen
interessiert sind; ihre Moral dient in erster Linie der
Herrschaft der Mächtigen. Ihre vorgeblichen Ziele liegen
in einem erphantasierten Jenseits, so daß sogar der selbstgemachte
Weltuntergang noch in ihr apokalyptisches Konzept
paßt. Es ist an der Zeit, eine neue, rein diesseitig
orientierte Religiosität zu leben, nicht nur, weil wir über
Jenseitiges nichts wissen können, sondern vor allem, weil
die jenseitsorientierten Religionen unsere notwendige
Reifung zu verantwortlichen Erwachsenen erklärtermaßen
durch ihren anmaßenden Autoritarismus behindern wollen.
Religion soll uns nicht besser machen, damit wir ein
erträumtes Himmelreich erwerben, eine bessere
Wiedergeburt erlangen oder ins Nirwana eingehen,
sondern damit wir richtig zu leben lernen, hier und jetzt.
Das bedeutet nichts weiter, als daß wir um unserer selbst
und unserer möglichen Nachkommen willen danach
streben sollen, möglichst wenig menschengemachtes
Leiden in der Welt zu verursachen
Was wir persönlich für uns gewinnen können, erscheint
nicht spektakulär, es ist 'nichts Besonderes' - wie in der
Zen-Tradition gerne gesagt wird: Wir werden frei von unseren
Besessenheiten, und finden inneren Frieden. Nicht
der stetige Erfolg unserer 'weltlichen' Geschäfte ist das
Ziel und die Folge unserer Übungen, sondern das Gelingen
jedes Lebensaugenblickes. Je nach den Umständen kann
sich dieses Gelingen in einer erfolgreichen Unternehmung
verwirklichen, im Erleben eines Sonnenuntergangs, in
einer Liebesbeziehung, aber auch im Bestehen von Leiden.
Zuletzt soll uns auch noch das Sterben gelingen.
Der Übungsweg der hier skizzierten neuen Religiosität ist
nicht ganz leicht zu gehen. Etwas Anstrengung und eine
gewisse Disziplin sind unerläßlich. Von uns selbst müssen
wir Tun und Haltung fordern, kein wohlfeiler Konsum
lockt uns, keine Erlösung erwartet uns und keine dauerhafte
Erleuchtung. Der Erfolg ist über unsere individuelle
Lebensgestalt hinaus nicht garantiert, und alle Fortschritte,
die wir vielleicht machen, können wir auch wieder verlieren.
Die einmal aufgenommene Übung müssen wir deshalb
unser Leben lang fortführen. Das ist der Preis für unser
geistiges Erwachsenwerden.
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Marburg 1996
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